Der Weltenbaum

copyright 2009 by Asmadon deMalice

Ich bin der Weltenbaum, der Baum des Lebens. Ich bin der Same, die Wurzel, der Stamm und die Krone. Das Alpha und Omega des Seins. Ich umfange alles, und bin von allem umgeben. Ich bin die Welt.
Jetzt schaust du verdutzt, kleiner Wanderer.
Du bist verwundert, dass ein Baum zu dir spricht.
Aber was ist daran so ungewöhnlich? Bist du noch nie im Schein der Morgensonne unter dem Blätterdach eines Waldes gewandert? Doch, das bist du. Und hast du nicht das leise Rauschen des Laubes im Morgenwind gehört, wie es den neuen Tag begrüßt und ihm zuflüstert, wovon es letzte Nacht geträumt hat? Du hast. Ich weiß, dass du es hast, denn schließlich bin ich der Weltenbaum. Also bin ich auch du. Nun schaust du noch verständnisloser drein. Warum setzt du nicht dein schweres Reisegepäck ab, wo du doch schon deinen Wanderstab an meinen Stamm gelehnt hast, und lässt dich ein wenig in meinem Schatten nieder? Dann könnte ich dir von mir – und von dir – erzählen. Und glaub es mir: danach wirst du verstehen. Ich muss es schließlich wissen, nicht wahr? So ist es besser. Ja, hole ruhig dein Reisebrot hervor; mit vollem Bauch lauscht es sich besser. Besonders, wenn es um Geschichten geht, die schwer im Magen liegen können.


Ich bin also der Weltenbaum. Was das ist, fragst du? Nun, das ist eine gleichzeitig ebenso schwere wie leichte Frage. Wie die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Sicherlich hast du schon einmal den bedeutungsschweren Satz gehört: Am Anfang war das Wort. Du nickst. Das dachte ich mir. Oder besser natürlich: Ich wusste es. Um es ganz kurz zu sagen: Dieser Satz ist vollständiger Blödsinn.
Nun werde nicht gleich blass. Was ist daran so schlimm? Immerhin ist es recht einfach zu erklären; um ein Wort, zum Beispiel auch eines ganz am Anfang, sagen zu können, muss man es erst einmal kennen. Und wenn man es kennt, ist man vorher da. Also kann das Wort nicht der Anfang sein, oder? Wenn du es ganz genau wissen willst: am Anfang war der Gedanke. Vielleicht nicht der Gedanke an ein Wort, aber eben doch ein Gedanke. Es wird gern gesagt, der Gedanke sei der Same des Universums – und dieser Satz ist ausnahmsweise richtig. Aus diesem Gedanken bin ich entstanden. Ich, du, dein Knappsack und sogar die Flasche, die du gerade öffnest, und aus der du vielleicht nicht zu viel trinken solltest, wenn du wirklich verstehen möchtest, was ich dir zu erzählen gedenke. Ja, ich weiß, was drinnen ist, und ich weiß, dass du dir denken kannst, dass ich es weiß. Ein kleiner Schluck, ja, das ist schon in Ordnung.


Der Gedanke ist also der Same des Universums. Und so, wie aus dem Gedanken das Universum entstand, wurde der Same zu mir. In Äonen wuchs die Welt, füllte sich mit Leben und Sein, wuchsen mein Stamm, meine Äste und Wurzeln, Zweige, Zweiglein und Blätter. Dinge sind gekommen und gegangen, entstanden und vergingen. Meistens in dieser Reihenfolge. Wie Wurzeln und Stamm aus dem Samen erstand so der Urgrund der Welt aus dem Gedanken, Zweige wurden zu Kontinenten und Ländern, jedes meiner Blätter steht für etwas, was auf dieser Welt wächst. Ziemlich pathetisch, nicht wahr? Aber so ist es nun einmal. Aber das ist es nicht gerade das, was du dich jetzt fragst, kleiner Wanderer, ich weiß. Du fragst dich, wo in diesem Bild du hingehörst. Schau einmal auf meine Borke. Ja, dort über dir, wo der kleine, gegabelte Zweig sprießt. Siehst du das winzige, rote Etwas, das sich ganz offensichtlich auf dem Blatt an der Zweigspitze äußerst behaglich fühlt? Genau wie dieses kleine Wesen auf mir lebt, lebst du auf dieser Welt. Ein Wesen von vielen, und doch einmalig. Klein im Vergleich zum Ganzen, und doch wegen seiner Einmaligkeit unendlich schön und bedeutsam. Oh – jetzt ist es davongeflogen.


Aber das bist du ja auch, nicht wahr? Fort aus deiner Heimat, und hierher, in fremdes Land, einen fremden Wald. Ich weiß, dass du besorgt bist, wohin dein Weg dich noch führen wird. Das kann ich dir nicht beantworten. Ja, natürlich könnte ich, aber ich werde nicht. Wo bliebe denn da mein Spaß. Aber ich möchte dir helfen, dass dich dein Weg nicht nur durch dorniges Unterholz führt, sondern unter ein schützendes Blätterdach. Bildlich gesprochen. Entschuldige mein Baumschullatein.
Der Gedanke ist der Same des Universums. Gedanken sind Wissen. Und Wissen werde ich dir mitgeben, damit du die Unwägbarkeiten der Welt besser erkennen und bestehen magst. Wissen über die Welt.
Ebene Wege, kleiner Freund. Ich wünsche dir viel Glück auf deiner Reise. Und nun würde ich vorschlagen, dass du dich auf den Weg machst, denn die Ameisen, auf deren Nest du dich so behaglich niedergelassen hast, scheinen langsam ungehalten zu werden…

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